Finde das „Yes“ am Ende der Leiter

Es ist Sonntag. Herbst, Sonne, der Wind rauscht in den gefärbten Blättern. In meinem früheren Leben wäre ich jetzt nicht gerade aufgestanden, sondern nach einer Stunde Anfahrt in frühsonntäglicher Stille bereits am Startpunkt einer Wanderung in der Eifel, im Bergischen oder sonstwo. Das ist vorbei. Ich gehe sonntags jetzt ins Museum. Vielmehr: Da gehe ich nicht, da stehe ich auch nicht: da sitze ich. Auf einem faltbaren, transportablen Hocker, die es stets zu leihen gibt.

Das Ei, das aus meinem Bein herausgeschnitten wurde, ist wieder da. Zwei Arthroskopien, die im Abstand einiger Monate am linken Knie gemacht wurden, konnten keine Ursache dafür entdecken. Deshalb kann ich jetzt seit gut einem Jahr nicht mehr richtig gehen. Der Schmerz darüber, nicht mehr zu meinen geliebten Wanderungen aufbrechen zu können, die mir Kopf und Seele frisch und den alternden Leib fit gehalten haben, ist oft kaum zu ertragen.

Der Körper scheint den Alterungsprozess rasant nachzuholen, als wäre ein Damm gebrochen, als hätte ihn der Sport zuvor davon abgelenkt. Jetzt ist Raum für Falten, Schlaffheit, Hängen, Zerfall. Auch das ist oft kaum zu ertragen.

ich schleppe also den welkenden Körper ins Museum, um meinen Geist am Leben zu erhalten und die innere Zerstörung über den Verlust meiner Lebensqualität nicht den Sieg davon tragen zu lassen.

Dort ist es stets das Gegenteil von der Waldeinsamkeit auf stillen, steilen Pfaden: voll, stickig und laut. Zumindest seit ich wieder dem arbeitenden Teil der Bevölkerung angehöre und nicht mehr zum Beispiel mittwochnachmittags auf meinem Museumshocker hocke, sondern eben inmitten der meisten anderen wochenends.

Die Sonderausstellungen sind immer überfüllt, sei es im Arp Museum Remagen, im Max Ernst Museum Brühl oder im K20 Düsseldorf. Die vielen Wochenendbesucherinnen und -besucher drängen sich – anders als in der luftig, architektonisch großzügig gestalteten Dauerausstellung – in einem engen, mit Trennwänden vollgestellten Raum mit schlechter Luft und beschissener Akustik. Danach muss ich mich immer erstmal in der Dauerausstellung – weiträumig, weitläufig, super klimatisiert, alles verläuft sich – erholen. Die Sonderausstellungen sind ja meist der aktuelle Lockvogel, irgendwie ist das doch sonderbar arrangiert in den Museen, ausgerechnet da immer im Gedränge zu landen. Kultureller Planungsfail.

Bei der Yoko-Ono-Ausstellung, Sonderausstellung im K20 Düsseldorf, bin ich zu einer privaten Führung angemeldet. Der Kölner Frauengeschichtsverein bietet das immer wieder an. Weil es Sonntag und so voll ist, hängen sich immer mal wieder Leute an die Führung dran. Die Gruppe ist eh schon so groß, das macht es noch anstrengender. Anfangs weise ich die Dranhänger noch darauf hin, irgendwann lasse ich es sein, es sind zu viele.

Eine Frau, im Oktober bei herbstlichen Witterungsverhältnissen in Leinenflatterhose und Birkenstock-Latschen gewandet, hippiesk, als käme sie geradewegs vom Flughafen und dort geradewegs von Ibiza, ist praktisch die ganze Führung über gratis dabei. Am Ende weisen zwei Teilnehmerinnen sie darauf hin, dass sie das nicht in Ordnung finden, sich ungefragt so selbstverständlich einer privaten Führung anzuschließen. Oha! Offenbar haben wir es hier mit einem Erschleichungsprofi zu tun. Sofort entrüstet sich die Angesprochene lautstark und exaltiert, mit welch provinziellen und spießigen Besucherinnen man es hier zu tun habe. Kleingeistige Frauen, so gar nicht im Sinne der Künstlerin Yoko Ono, was habe man hier überhaupt zu suchen mit dieser Einstellung. Sie hingegen, Kunstpädagogin, sei weltgewandt und ganz im Sinne des Kunstgenusses der ausgestellten Künstlerin unterwegs. (Dass wir kurz zuvor gehört hatten, dass auch diese fünf Pfund dafür haben wollte, dass Menschen neben ihr einen Nagel mit dem Hammer in die Wand hauen – geschenkt.) Bezahlt oder nicht, wie profan, es könne sich ja hier nur um Landfrauen handeln, wenn man so denke, wir mögen doch alle dahin zurückkehren, woher wir kämen.

Die Frau vom Kölner Frauengeschichtsverein ergreift das Wort, man möge doch Yoko Ono aus dem Spiel lassen bei der berechtigten Kritik. Das Lamento der Kunstpädagogin schraubt sich in ungeahnte Höhen. Ich schlage vor, den Kölner Frauengeschichtsverein in Kölner Landfrauenverein umzubenennen; schließlich kenne ich als Dorfkind echte Landfrauenvereine und fände das sehr lustig. Außer mir aber keine. Entgeisterte Blicke.

Die Kunstpädagogin schlappt irgendwann leinenhosenflatternd von dannen, vermutlich zurück in Richtung der ibizenkischen Kommune, immer noch schimpfend. Ich denke, das sind die Menschen, die gut durchs Leben kommen. Keine Einsicht, der Fehler liegt immer bei den Anderen.

Ich schnappe mir nach dieser Schlussepisode der sehenswerten Ausstellung einer verkannten, missverstandenen, unterschätzten und immer im Schatten ihres Partners John Lennon gesehenen großen Künstlerin des 20. Jahrhunderts (und auch des 21., Yoko Ono ist 91 und hat immer noch Ideen) meinen faltbaren Hocker und gucke mir drei weitere Durchgänge des Videos „Cut Pieces“ an, in dem Yoko Ono 1965 angezogen auf einer Bühne sitzt, vor sich eine große Schere. Das Publikum ist aufgefordert, Teile ihrer Kleidung abzuschneiden, und nach zaghaften ersten Schnitten werden die Cutter, überwiegend Männer, immer rabiater, einer schneidet ihr am Ende noch die beiden BH-Träger durch. Das Stück, wie das Meiste von Yoko Ono als „Instruction“ zum Nachahmen freigegeben, wird wohl gelegentlich noch inszeniert.

Ich könnte es nicht, ich hätte Angst, von der Schere verletzt zu werden. Schneiden ist jetzt auch schwieriges Terrain. Mit den Schnitten am Knie, die für meine vergeblichen Versuche stehen, mein Bein und damit meine Leidenschaft, das Zu-Fuß-Gehen und Wandern und Bergsteigen, zurückzubekommen.

Yoko Ono vergleicht das Leben mit dem beschwerlichen Besteigen einer Leiter. Eine Sprosse folgt auf die andere. Hat man Glück, kommt man irgendwann oben an und stößt auf ein hauchzartes „Yes“ an der Decke. Das ist so filigran, dass man es mit der Lupe suchen muss, die sie in ihrer Installation praktischerweise gleich daneben gehängt hat. Ich sitze länger vor der Leiter und fühle mich irgendwo hängengeblieben zwischen den Sprossen, sehe nur diese Stufen und den Raum, die Leere dazwischen und darunter. Weit entfernt von einem „Yes“.

Ich bringe mein Museumshöckerchen zurück zur Garderobe, kaufe einen „Yes“-Button im Shop und hefte ihn an meine Jacke. Falls die nächste zu erklimmende Sprosse in meinem Leben doch noch in Sicht kommen sollte.