Bullet Journal

Papier ist geduldig. Zum Glück ist das so. Bei einem Seminar staunte ich nicht schlecht, dass die sowas von analog-althergebrachte Tradition des Notizbuch- und Kalenderschreibens dank Instagram einen neuen, Influencer-geeigneten Begriff übergestülpt bekommen hat: den des Bullet Journals. Es ist jetzt also hip, Skizzen- oder Ideenbücher zu führen und dort mit teuren Stiften in „Handlettering“-Schriften einzutragen, was man erledigen muss. Als Gegengewicht zum flüchtigen digitalen Dasein.
Beim Seminar präsentiert eine Teilnehmerin stolz ein Booklet, hergestellt von ihrem Unternehmen für dessen Beschäftigte, das kurz zuvor den Preis für das innovativste Kommunikationsmedium gewonnen hat: ein Bschnl. Was? Ich muss nachfragen. Aus dem für mich, die deutlich ältere Seminarteilnehmerin, geduldig und nachsichtig langsam ausgesprochenen Bul-let Jour-naaal werde ich leider auch nicht schlauer. Als das sagenhaft umworbene Druckerzeugnis herumgereicht wird und mich erreicht, muss ich nochmal nachhaken. Macht nichts, mein Ruf ist in der Sache eh ruiniert. Es handelt sich meiner Ansicht nach um ein mit Kalendarium versehenes Notizbuch. Gab es schon immer, begleitet mich in dieser oder jener Form, seit ich schreiben kann. Was ist daran innovativ?
Ich oute mich also als anachronistisch und nicht up-to-date. Wie kann man ein Bullet Journal nicht kennen? Eine andere Seminarteilnehmerin springt mir zur Seite, sie schreibe schon immer in Moleskine-Notizbücher und verstehe den Hype nicht. Die jüngere Kollegin fühlt sich daraufhin irgendwie bedrängt von den ollen Nudeln mit ihren noch olleren Notizbüchern und wirft hektisch mit vielen englischen Begriffen um sich. Wir kommen nicht weiter. Ich gebe auf. Wenn ich künftig meine Arbeitstermine und privaten Verabredungen und Verpflichtungen mit Bleistift in meinen Jahreskalender eintragen werde, wenn ich bei Meetings, Seminaren oder am Schreibtisch Dinge, von denen ich glaube, dass sie mir von Nutzen sein könnten, in mein dickes Notizbuch schreibe, werde ich ganz heutig und Insta-abgeklärt so tun, als führte ich ein Bullet Journal. Ein paar Buntstifte habe ich auch, manche Meetings sind jetzt ja auch nicht soooo irre spannend, da kann ich nebenher auch ein bisschen malen. Und wenn jemand irritiert nachfragt, kann ich ganz lässig erwidern, das sei ein Bullet Journal, da mache man das so. Was? Sie haben noch nie was von einem Bullet Journal gehört? Also, wo leben Sie denn? Bitteschön!
Abends am Seminartag lese ich in einem Büchlein, das lauter schöne Wandergeschichten versammelt. Eine Geschichte von Hermann Hesse ist dran. „Sommerreise“ heißt sie, sie ist als „Eine Wandererinnerung“ erstmals erschienen 1905. Darin steht: „Hier mögen Wagen fahren und Touristen gehen, Fotografen ihre Apparate stellen und Backfische ihre Skizzenbücher aufmachen (…).“ Ja, 1905. Die Backfische wussten es nicht, Hermann Hesse wusste es nicht, ebenso wenig wie ich 115 Jahre später, dass sie da handlettern und sich in einer geradezu mystischen Form selbst organisieren und verwirklichen.

Verschiedene biografische Bullet-Journal-Epochen: frühe Form (1980er Jahre), mittelspäte Form (2000er Jahre). Heute gibt es Fachliteratur, die so beworben wird: „Der Erfinder der bahnbrechenden Bullet-Journal-Methode Ryder Carroll zeigt in diesem Buch, wie Sie endlich zum Pilot Ihres Lebens werden und nicht länger Passagier bleiben. Seine Methode hilft, mit einer strukturierteren Lebensweise achtsamer und konzentrierter zu werden.“ Da war ich ja schon früh Pilotin meines Lebens.

Update: Ich gehöre nun dazu. Kurz nach Erscheinen dieses Posts erhielt ich es geschenkt: mein erstes eigenes und einziges Bullet Journal! Einfach reinschreiben is nich, es liegt ein Booklet mit „Instructions“ bei.

2 Gedanken zu “Bullet Journal”

  1. Oh my GOD – manchmal bin ich froh, in ca. 50 Jahren nicht mehr in dieser Welt leben zu müssen, wo 'mit der Hand schreiben' als so schwierig und 'special' erachtet wird, daß es dafür 'instructions' geben muss… Handschrift ist eine der jahrtausendalten Fähigkeiten des Menschen – und jetzt wird auch noch Kohle damit gemacht??? Was lernen die Kinder eigentlich heutzutage in der Schule, daß sie am Ende Geld für 'handlettering' ausgeben??? Melanie, isch rähsch misch off (Sächsisch für 'I am freaking out') – mehr Aufregung am 16. 🙂

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